Zoomen oder laufen?
Manche Fotografen lästern, wer seine Motive mit dem Zoom heranhole, sei bloß zu faul zum Laufen. Aber selbst abgesehen von solchen Fällen, in denen man durch unüberwindliche Hindernisse daran gehindert wird, sich dem Motiv zu nähern, ist dieses Vorurteil falsch. Die Wahl der Brennweite und die Wahl des Standorts sind gleichberechtigte Aspekte der Bildgestaltung mit ganz unterschiedlicher Wirkung; weder kann man durch eine Änderung des Standorts eine Brennweitenveränderung ersetzen, noch macht das Zoom die Wahl des optimalen Standorts überflüssig.
Eine Veränderung der Brennweite verändert den Bildwinkel; da das Bild in jedem Fall gleich groß bleibt, vergrößert oder verkleinert sie das Motiv. Eine lange Brennweite erfasst nur einen kleinen Bildwinkel und vergrößert diesen Ausschnitt, eine kurze Brennweite hingegen erfasst einen größeren Winkel und verkleinert den Ausschnitt. Der Effekt einer Brennweitenverlängerung ist derselbe, als würde man aus einem größeren Bild einen Ausschnitt wählen und diesen vergrößern – abgesehen davon, dass die nachträgliche Ausschnittvergrößerung nicht zu einer besseren Detailauflösung führt, während das längerbrennweitige Objektiv auch feinste Bilddetails vergrößert.
Die Wirkung einer längeren Brennweite entspricht der einer Ausschnittvergrößerung
Obwohl die Brennweite also nur den Ausschnitt und die Vergrößerung oder Verkleinerung des Motivs bestimmt, spricht man doch von der gerafften Perspektive eines Teleobjektivs oder den typischen Verzerrungen eines Weitwinkelobjektivs – Knollennasen bei Portraits etwa, oder stürzenden Linien bei Architekturaufnahmen. Tatsächlich hängt die Perspektive aber nicht von der Brennweite ab, sondern allein von der Entfernung zum Motiv.
Wenn man ein Porträt in Frontalansicht aus einer Entfernung von 1,5 Metern aufnimmt, sind die Ohren der porträtierten Person rund 10 Prozent weiter entfernt als deren Nase. Die Abbildungsmaßstäbe stehen im umgekehrten Verhältnis; die Ohren werden also in einem nur 10 Prozent kleineren Maßstab als die Nase abgebildet. Eine so geringe Verzerrung der tatsächlichen Größenverhältnisse fällt dem Betrachter noch nicht störend auf. Rückt man aber mit der Kamera bis auf 15 Zentimeter an die Nasenspitze heran, sind die Ohren nun doppelt so weit entfernt und werden folglich gegenüber der Nase auf die Hälfte verkleinert abgebildet. Schon zwischen Nasenspitze und Nasenwurzel ändert sich der Abbildungsmaßstab so stark, dass eine wohlproportionierte Nase zur Knollennase verzerrt erscheint.
Unterschiedliche Brennweiten kommen erst dadurch ins Spiel, dass je nach Entfernung zum Motiv unterschiedlich große Bildwinkel erfasst werden müssen. Wenn man ein Porträt aus nächster Nähe fotografiert, muss man eine kurze Brennweite einsetzen, um mit einem großen Bildwinkel das Gesicht überhaupt komplett erfassen zu können; fotografiert man aber dasselbe Porträt aus großer Entfernung, so kann man nur mit dem kleinen Bildwinkel einer langen Brennweite das Motiv formatfüllend abbilden. Die unterschiedliche perspektivische Wirkung entsteht durch die unterschiedliche Entfernung, nicht durch die Wahl der Brennweite.
Vor der Aufnahme kommt also zunächst die Wahl des Standorts und damit der Perspektive. Hat man aber den optimalen Standort gefunden, so muss man die passende Brennweite wählen, die das Motiv formatfüllend abbildet. Ein weiter entferntes Motiv muss man heranzoomen – es wäre keine Alternative, stattdessen näher haranzugehen, da sich damit die Perspektive wieder verändern würde. „Laufen statt Zoomen“ wäre die falsche Devise; richtig ist: "Erst laufen, dann zoomen.“
Die perspektivischen Wirkungen, die sich aus dem Betrachterstandort ergeben, waren schon lange vor Erfindung der Fotografie bekannt. Der Zeichner, der in diesem Holzschnitt Albrecht Dürers mit Hilfe eines Gitters, eines damit korrespondierenden Rasters auf der Zeichenfläche und einer Visiervorrichtung arbeitet, müsste die Knie seines Modells zweimal so groß wie dessen doppelt so weit entfernten Kopf abbilden.